Schafsherde

Was uns bleibt sind unsere Werkzeuge

Vor einer Weile fuhr ich mit einem Jeep durch die wunderschönen Berge von Bosnien Herzegowina. Etwas abseits vom Tourismus-Trubel an der Küste genoss ich die endlose, wunderschöne Landschaft. Draußen in der Natur ist man mit bodenständigen Problemen konfrontiert. Herausforderungen wie dem ausreichenden Wasser- und Nahrungsvorrat, einfacher Körperhygiene, Feuermachen, Schutz vor Wärme und Kälte suchen. Herausforderungen, die mich erden und meine Alltags-Probleme wieder in einen neuen Kontext rücken.

Ich begegnete lange niemandem bis ich auf eine Schafsherde traf, die meinen Weg kreuzte. Ich wurde auf den zugehörigen Hirtenjungen aufmerksam. Er saß zufrieden auf einem Stein, mit einem Strohhalm im Mund und einem Stock in der Hand. Die Situation war schon fast zu kitschig, als dass sie sich real anfühlte. Sei’s drum. Seine Aufgabe bestand einzig und allein darin, seine Schafe zu beschützen, sie regelmäßig zu einem neuen Weideplatz zu führen und sich dabei die Zeit zu vertreiben. Tag ein, Tag aus. Er hatte kein Buch bei sich, kein Smartphone, keine Möglichkeit, sich mit einer Netflix-Serie die Zeit zu vertreiben. Entschleunigung auf ganzer Linie.

Eine Zeitreise durch 5 Jahrzehnte

In Schrittgeschwindigkeit fuhr ich mit dem Jeep weiter über den steinigen Landweg, der mich zu einem kleinen Bergdorf führte. Es gab weit mehr Tiere als Bewohner. Männer mit Latzhose arbeiteten mit schweren Geräten auf dem Feld. Frauen standen im Hauskleid und Schürze im Gemüsegarten. Es schien, als wäre die Zeit hier stillgestanden. Ich kam nicht umhin mich zu fragen, wie weit diese Welt von meiner entfernt ist. „1.500 km“ antwortete Google. Eine Zeitreise durch 5 Jahrzehnte sagte mir mein Gefühl.

Ich beobachtete die Menschen in dem Dorf. Es gab Bauern mit Ackerland und Vieh. Maurer, die Häuser und Mauern bauten. Schweißer, die mit entsprechendem Werkzeug ausgestattet waren. Bäcker, die die Bewohner mit Brot versorgten. Ich entdeckte eine kleine Schule. Vermutlich leben auch die Lehrer in diesem Dorf. Jeder hier schien seine Aufgabe zu haben. Aufgaben, die es dem Dorf ermöglichten alles lebenswichtige zu organisieren. Jeder bringt sich ein. So scheint es zumindest.

NICHT EINMAL MEINE ELTERN VERSTEHEN, WOMIT ICH MEIN GELD VERDIENE

Ich fragte mich, was ich wohl antworten würde, wenn mich der Hirtenjunge fragen würde, was ich beruflich tue. Ich bin Unternehmensberaterin für Digitalisierung und Innovation. Nicht einmal meine Eltern haben je verstanden, womit ich mein Geld verdiene.

Was ist eigentlich mit unserer Welt geschehen? Schon klar. Es gab die Industrialisierung, technischer Fortschritt, Globalisierung, Internet. Schritt für Schritt haben wir unsere Welt einfacher, besser, bequemer, schneller gemacht. Oder zumindest Prozesse, Abläufe und schwere Handarbeit automatisiert.

Wir sprechen über die totale Vernetzung. Digitalisierung und Automatisierung wo es nur geht. Unsere Welt wird komplexer. Weniger mechanisch, weniger anpacken. Mehr technisch, mehr denken. Und das Ganze geschieht in einer brutalen Geschwindigkeit. Denn der technologische Fortschritt entwickelt sich exponentiell. Es entstehen neue Jobs, wir benötigen tiefes Expertenwissen, KI-Spezialisten. Doch Technologie entwickelt sich so rasant, dass sie uns über den Kopf wächst. So extrem, dass wir sie häufig nicht mehr selbst verstehen können oder zumindest nur noch ganz wenige von uns. Alles ist mit allem verknüpft. Klimaschutz, Veganismus, Zero-Waste, Rohstoffknappheit, Elektroantrieb, Massentierhaltung, Kriege, Flüchtlingskrise, Trump, Extremismus, Burnout, Selbstfindungsreisen und Sabaticals mit Mitte 20.

UNS WACHSEN UNSERE EIGENEN ERRUNGENSCHAFTEN ÜBER DEN KOPF 

Wir haben alles, verurteilen andere und suchen dennoch nach dem Sinn des Lebens. Wir feiern die Emanzipation und den Urban Lifestyle aber mieten uns Grünflächen am Stadtrand, um endlich wieder mit einer Schippe im Gemüsegarten zu stehen und selber Tomaten ernten zu können. Was uns als Menschen ausmacht und zur angeblich intelligenten Spezies macht, ist vor allem die Fähigkeit, Werkzeuge zu benutzen, ein Selbstbewusstsein zu entwickeln und komplexe Probleme zu lösen. Wenn nun die Probleme zu komplex werden, um sie zu verstehen, uns der Sinn unserer Tätigkeiten und damit unser Selbstbewusstsein abhanden kommt, bleiben uns nur noch die Werkzeuge, die wir benutzen. 

FREIHEIT IST DIE WAHRE ERRUNGENSCHAFT UNSERER ZEIT

Nicht wissend, ob bedauernd oder neidvoll, fahre ich mit meinem Jeep weiter. Aber irgendwie erleichtert, dass es doch nur 1.500 km sind, die uns voneinander trennen. Keine Zeitreise, sondern nur die eigene Entscheidung, wie ich mein Leben gestalten möchte. Diese Freiheit ist die wahre Errungenschaft unserer Zeit.

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